Weniger Handy – mehr Zeit zum Leben

Ist es nicht unglaublich, wie viel Zeit wir mir diesem neuen Gadget verbringen? Wer wie ich noch in den 80er Jahren groß geworden ist, erinnert sich daran, wie ein Leben ohne Mobilfunkgerät war. Weder Kinder noch Jugendliche hatten ständig einen oder mehrere Bildschirme („glowing screens“) zur Hand.

Stattdessen gab es in den meisten Familien einen einzigen Fernseher mit weniger Programmen als Finger an einer Hand und ein schnurgebundenes Telefon. Letzteres war für wichtige Mitteilungen reserviert. Auf keinen Fall sollte es längere Zeit besetzt sein, nur für den Fall, dass eine wichtiger Anruf eingehen sollte. In meiner Teenagerzeit in den 90er Jahren habe ich längere Telefonate in einer Telefonzelle in der Nachbarschaft geführt. Oder mich doch lieber gleich mit der besten Freundin getroffen.

Früher war alles … anders

Nein, ich will nicht sagen, früher sei alles besser gewesen. Aber unsere Generation hatte noch eine Kindheit in Bäumen, Parks, Schwimmbädern, auf Spiel- oder Sportplätzen und Rasenflächen in der Nachbarschaft. Wir haben uns verabredet und getroffen, um uns auszutauschen. Und wir haben gespielt, gebaut, uns ausprobiert, geträumt und uns über unseren Tag ausgelassen. In Kontakt miteinander.

Wenn ich meine Erfahrungen mit denen meiner Kinder vergleiche, könnten für mich die Unterschiede zumindest in der Jugend nicht größer sein.

Kontakt lieber digital

Und wenn ich mir mein erwachsenes Umfeld ansehe, fällt auf, dass die mobilen Bildschirme oft den Austausch mit anderen ersetzen. Statt anzurufen wird getextet, soziale Netzwerke sollen uns in Kontakt mit einander halten. Auf der Straße, in Warteschlangen an Kassen oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist der Blickkontakt mit Fremden selten geworden. In Restaurants füllt das gemeinsame Scrolling oft die Gesprächspausen und bei so manchem Freund fällt auch auf Parties der Blick sofort auf das bereitliegende Handy, wenn der Bildschirm aufleuchtet, ungeachtet dessen, mit wem man sich gerade unterhält.

Immer seltener beobachtet man, dass Erwachsene über eine längere Dauer Ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache konzentrieren können oder wollen. Beim Fernsehen liegt das Tablet bereit, das Mobiltelefon hat man ohnehin immer bei sich (damit man nichts verpasst) und so kann man, während man die Lieblingsserie verfolgt parallel noch schnell Besorgungen machen und auf Nachrichten reagieren.

Warum wollen wir immer erreichbar sein?

FOMO – Fear Of Missing Out.

Nein, wir wollen nichts verpassen. Nicht außen vor sein, nicht zu denen gehören, die nicht wissen, worüber die Welt redet.

Aber warum? Warum ist es so wichtig geworden, bei allem dabei zu sein? Weil wir unseren eigenen Wert daran knüpfen, dabei zu sein?

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Es war evolutionär schon immer von großer Bedeutung, dass wir in einem stabilen sozialen Gefüge leben. Außenseiter waren vom Aussterben bedroht. Wer nicht einem Stamm angehörte, wer ausgestoßen wurde, hatte kaum Überlebenschancen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass wir schon bei dem Gedanken, nicht dazu zu gehören, ein unangenehmes Gefühl verspüren.

Wir Menschen haben im Laufe der Evolution gelernt, größere soziale Gefüge zu bilden, wobei nach einer bekannten Theorie unsere spezielle Begabung des Geschichtenerzählers (uns und anderen) erst den Aufbau ganzer Zivilisationen ermöglichte. Yuval Noah Harari beschäftigt sich in mehreren Büchern mit dieser Begabung, diesem Verhaltensmuster, das unsere Spezies so besonders zu machen scheint, so dass wir auch ohne „Instinkt der Massenkooperation“ in riesigen Städten und politischen Reichen zusammenleben und -arbeiten können.

Es ist also natürlich, dabei sein oder zumindest nichts verpassen zu wollen.

Digitale Kontakte sind bequemer als reale Kontakte

Und hier kommt die besondere Stärke der digitalen Medien und der Digitalisierung unseres Soziallebens zum Tragen: Digital ist bequem. Ich kann von der Couch in meine Lieblingsdecke gekuschelt in Kontakt mit der gesamten Welt treten. Und bleibe doch in meiner Komfortzone.

Spätestens seit den Monaten des Lockdowns während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 haben wir alle Gebrauch machen müssen von den digitalen Medien, um uns zu informieren, unseren Berufen nachzugehen, unsere Kinder zu beschulen, soziale Kontakte aufrecht erhalten zu können, einzukaufen und und und.

Und durch diese prägenden Erfahrungen haben viele von uns verlernt (oder gar nicht erst gelernt), im realen Leben Kontakte zu knüpfen und zu pflegen.

Aber sind digitale Kontakte auch erfüllend?

Diese Frage kann natürlich nur jeder für sich beantworten. Und die Antwort ist auch abhängig vom Kontext. Was für eine Art von Kontakt betrachte ich?

Wenn ich eine technische Frage zu meinem defekten Staubsauger habe, kann für mich sogar der Kontakt mit einer Künstlichen Intelligenz (interessant zum Thema KI auch das Buch „The Comming Wave„) zielführender und für meine Problemstellung erfüllender sein als der Kontakt mit einer echten Person (deren Leitung möglicherweise ständig belegt ist, weil sie sich nicht einfach multiplizieren lässt). Andererseits gibt es sicherlich für jeden Menschen Bereiche, in denen der physische Kontakt mit einer Person sich durch nichts anderes zufriedenstellend ersetzen lässt.

Die digitale Welt kann ein Zeiträuber sein

Viele kennen das. Man greift nach dem Handy, weil man eine Nachricht lesen wollte, und unmittelbar davor oder danach fällt einem etwas anderes ein, was man unbedingt nachsehen, kaufen, schreiben, beantworten wollte und man kommt von einem zum anderen. Schwuppdiwuppp ist eine halbe Stunde vergangen, in der man ausschließlich mit seiner Aufmerksamkeit bei seinem Handy war. Und aus der halben Stunde werden ohne weiteres über einen Tag verteilt mehrere Stunden.

Als ich vor einigen Jahren immer nur im Urlaub Zeit für eine regelmäßige Yogapraxis gefunden habe, bin ich über die damals neue Funktion meines Handys Anzeige der Bildschirmzeit gestolpert. Und war ehrlich gesagt schockiert, wieviel Zeit ich da verschwendete. Zeit, die mir für andere Dinge fehlte.

Und ich musste mir eingestehend, dass ich nicht zuwenig Zeit im Alltag hatte, sondern die falschen Dinge priorisierte. Statt (zur vermeintlichen Entspannung) durch Instagram zu scrollen, konnte ich auch eine halbe Stunde meditieren. Statt zehnmal am Tag meine E-Mails zu checken und mühsam auf dem Handy Antworten zu tippen, konnte ich mir auch einmal am Tag bewusst Zeit dafür nehmen (an einem Computer) und effizient erledigen, wenn etwas erledigt werden musste. Die übrige Zeit blieb dann für andere Dinge, wie beispielsweise eine bewusste Stunde Zeit mit den Kindern oder eben Zeit für Yoga.

Böse digitale Welt?

Die digitalen Medien sind für sich genommen weder gut noch böse. Stattdessen sind sie Werkzeuge, die unser Leben vereinfachen können.

Aber ich wage die These, dass wir als Menschen, deren physische Entwicklung mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten kann, Schwierigkeiten haben, diese Werkzeuge in einem für uns gesunden Maß zu nutzen. Unser Gehirn hat sich in den letzten 10.000 Jahren wenig entwickelt, unsere Instinkte, unsere Reizverarbeitung ist nicht an neue technische Welt angepasst, und wir werden schnell zum Opfer unserer eigenen Technik. Interessant hierzu sind die Ausführungen von Manfred Spitzer in seinem Buch Digitale Demenz.

Das Spiel mit dem Handy

Abschließend empfehle ich aus meiner Erfahrung, einfach die eigenen Gewohnheiten im Umgang mit Handy und Co. spielerisch zu prüfen. Ich selbst habe kleine Experimente durchgeführt, eine Beschränkung meiner Bildschirmzeit, das Löschen von Apps auf meinem Handy, den Verzicht auf das Handy für bestimmte Zeitfenster und dergleichen.

Jetzt habe ich Zeit für eine regelmäßige Praxis und genieße die Früchte hiervon mehr als das „Entspannungs-Scrollen“ der Vergangenheit. Verpasse ich manchmal etwas? Oh ja! Sehr oft sogar. Aber in manchen Fällen lösen sich die aufgeworfenen Fragen und Probleme ehe ich überhaupt darauf aufmerksam wurde und es erübrigt sich jede Reaktion meinerseits (wieder Zeit gespart). Dieser Vorteil wiegt für mich den Nachteil, andere Dinge zu verpassen in jedem Fall auf.

Wichtig ist die klare Kommunikation mit dem Umfeld: „Ich handhabe das so, wenn Du nicht erreichst oder etwas dringendes hast, rufe mich bitte an.“ Dann hält sich auch der Ärger des Umfelds in Grenzen, wenn man scheinbar wochenlang untergetaucht ist und nicht antwortet. Nur meine Kinder verstehen noch nicht, warum Maman am liebsten ohne Handy unterwegs ist…

Viel Spaß beim Ausprobieren.

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