Der Begriff „Ego“ hat in unserem alltäglichen Sprachgebrauch eine negative Konnotation und wird oft mit Selbstbezogenheit, Eitelkeit oder einem überhöhten Selbstbild gleichgesetzt. Es beschreibt, wie jemand auf andere wirkt – egoistisch, arrogant, selbstverliebt. Im Gegensatz dazu stehen die komplexen psychologischen oder spirituellen Konzepte, die in Fachdisziplinen wie Psychologie, Psychoanalyse oder Yogaphilosophie damit verbunden sind. Was das Ego mit dem Ich zu tun hat und inwieweit das Ego dem Ich hilft oder ihm im Weg steht, möchte ich näher unter die Lupe nehmen.
Ego (lat.) = Ich (Erste Person, singular)
Es könnte so einfach sein… Ego heißt Ich, also muss es doch das gleiche sein. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Yogaphilosophie sehen das jedoch anders…
In der klassischen Psychoanalyse und Psychologie sind insbesondere die Definitionen von Freud und Jung berühmt geworden, wobei auch die moderne Psychoanalyse und Psychologie auf diesen Modellen aufbauen. Durch den Einsatz modernster Untersuchungsmethodiken wird inzwischen auch wissenschaftlich überprüft, wie das Ego (oder das Selbst) mit neuronalen Strukturen wie dem präfrontalen Cortex (Selbstregulation, Entscheidungsfindung) oder dem Default Mode Network (Selbstbezug, Tagträumen) zusammenhängt.
Interessant ist, dass die teilweise Jahrtausend(e) alten Schriften der Yogaphilosophie mit ihren Definitionen durchaus Ähnlichkeiten mit modernen Modellen und Definitionen des Egos aufweisen. Der Umgang mit dem Ego ist jedoch völlig unterschiedlich.
Das Ego in der modernen Psychologie und Psychoanalyse

Das Ego in der Strukturtheorie der Psyche
Siegfried Freud beschreibt das Ego als eine der drei Instanzen der Psyche in seinem Modell aus Es, Ich (=Ego) und Über-Ich. Das Ego entwickelt sich aus dem Es und ist die Instanz, die mit der Realität interagiert. Somit bildet das Ego die Schnittstelle und den Vermittler zwischen den triebhaften Wünschen des Es (das Unbewusste, das nach sofortiger Befriedigung strebt) und den moralischen Anforderungen des Über-Ichs (das Gewissen, das gesellschaftliche Normen und Werte repräsentiert). Es arbeitet nach dem Realitätsprinzip, d.h., es versucht, die Impulse des Es in einer sozial akzeptablen Weise zu befriedigen.
Freud verglich das Ego mit einem Reiter, der das wilde Pferd (das Es) zügeln und durch die äußere Realität lenken muss, während das Über-Ich als strenger Richter auftritt.
Das Ego im analytischen Psychologie-Modell
Carl Gustav Jung, der sich von Freud abspaltete, hat eine andere Sichtweise auf das Ego. Bei Jung ist das Ego weniger ein Vermittler zwischen Instanzen, sondern mehr ein zentraler Teil des Bewusstseins:
Das Ego ist die Summe dessen, womit sich eine Person identifiziert (Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen). Es ist der bewusste Teil der Persönlichkeit, der die Kontinuität und Identität eines Individuums ausmacht. Das Ego dient als Torwächter zum Unbewussten und ermöglicht die Interaktion mit der Außenwelt. Es ist jedoch nicht die Gesamtheit der Psyche, sondern nur ein kleiner Teil. Jung betonte, dass das Ego in Beziehung zum größeren „Selbst“ (dem Zentrum der gesamten Psyche, einschließlich des Unbewussten) steht. Das Ego kann somit ein Hindernis für die Individuation (den Prozess der Ganzwerdung) sein, wenn es zu starr oder dominant wird.
Jung verglich das Ego manchmal mit der Spitze eines Eisbergs – es ist sichtbar, aber nur ein kleiner Teil der gesamten Psyche, die größtenteils im Unbewussten (wie dem kollektiven Unbewussten) verborgen liegt.
Gemeinsamkeiten
Beide sehen das Ego als bewusstseinsnah und als Schnittstelle zur Realität, aber Jung legt mehr Wert auf die spirituelle und transzendente Dimension der Psyche, während Freud sich auf die triebhafte und soziale Dynamik fokussiert.
Das Ego in der Yogaphilosophie
Auch in der Yogaphilosophie wird das Ego in Beziehung zu dem Selbst gesehen, jedoch steht es hierbei nicht für eine eigenständige psychologische Instanz, sondern wird als Illusion oder Fehlidentifikation des Selbst mit dem Körper, dem Geist und der materiellen Welt definiert. Der zentrale Begriff für das Ego ist Ahamkara (wörtlich: „Ich-Macher“), während das wahre Selbst oft mit dem Atman gleichgesetzt wird.
Die Wagenlenker-Analogie (ca. 500 v. Chr.)

Die sogenannte Wagenlenker-Analogie ist eine berühmte Metapher aus den Upanishaden, insbesondere aus der Katha-Upanishad, die das Konzept des „Selbst“ sowie seine Beziehung zu Körper, Geist und Sinnen erklärt.
Ein zentraler Vers der Katha-Upanishad (1.3.3-4) lautet sinngemäß:
„Erkenne den Atman als den Herrn des Wagens, den Körper als den Wagen, den Intellekt als den Wagenlenker, den Geist als die Zügel. Die Sinne sind die Pferde, die Objekte der Sinne sind die Wege. Wer ohne Unterscheidungskraft ist, dessen Sinne sind ungebändigt, wie ungebärdige Pferde eines Wagenlenkers. Doch wer Unterscheidungskraft hat und einen kontrollierten Geist, dessen Sinne sind gezähmt, und er erreicht das höchste Ziel.“
Das „Ich“ wird in der Katha-Upanishad auf verschiedenen Ebenen verstanden. Es gibt hier eine Unterscheidung zwischen dem wahren „Ich“ (Atman repräsentiert durch den Herrn bzw. Passagier des Wagens) und dem falschen „Ich“, das mit dem Ego (Ahamkara) assoziiert wird.
Der Atman ist der eigentliche „Herr“ des Wagens, aber er ist passiv – er greift nicht direkt ein, sondern beobachtet. Er ist das Bewusstsein, das alles durchdringt und die Reise überdauert. Sein Ziel ist es, zur Erkenntnis seiner eigenen Natur zu gelangen, also zu erkennen, dass er eins ist mit Brahman, der höchsten Wirklichkeit.
Obwohl die Wagenlenker-Analogie das Ahamkara (das Ego im Sinne der Yogaphilosophie) nicht explizit erwähnt, wird es oft implizit verstanden als die Fehlidentifikation des Atman mit den Aktivitäten des Wagens. Das Ahamkara ist die Illusion, die entsteht, wenn der Intellekt (Buddhi) oder der Geist (Manas) sich mit den Sinnen und dem Körper identifiziert und glaubt: „Ich bin der Handelnde“, „Das gehört mir“. In der Analogie könnte man sagen, dass das Ahamkara entsteht, wenn der Wagenlenker (Buddhi) vergisst, dass er nur ein Diener des Passagiers (Atman) ist, und sich selbst für den Herrn hält. In der Folge irrt der Wagen ziellos umher, er wird von den Begierden der Sinne (den Pferden) oder dem durch Erfahrungen geprägten Geist (den Zügeln) gelenkt.
Wie sollen wir mit dem Ego umgehen?
In unserer heutigen Zeit kann man Ahamkara entsprechend darin sehen, dass wir uns oft mit Äußerlichkeiten, unseren Besitztümern, unserem Status identifizieren. Infolgedessen vergessen wir, dass wir alle Teil eines großen Ganzen (von allem, was ist, beispielsweise der Natur) sind. Entsprechend fühlen wir uns in unserer Selbstbezogenheit (und im ständigen Vergleich mit anderen, die mehr haben) isoliert und unglücklich. Wir halten krampfhaft an unseren Besitztümern, unserem Status oder unseren Äußerlichkeiten fest, was unseren leidvollen Umgang mit dem Altern und dem Verlust von Status im Alter und dem Festhalten an Dingen erklärt.
In der Yogaphilosophie ist das Ego kein „Feind“, der zerstört werden muss, sondern ein Hindernis, das überwunden oder transzendiert werden soll. Die Yoga-Praxis soll uns entsprechend helfen, unsere Identifikation mit dem Ego zu lösen und stattdessen Einheit mit unserer wahren Essenz (als Teil von allem) zu erfahren, indem wir Sinne, Geist und Intellekt zum Stillstand bringen:
„Erst wenn gelangt zum Stillstande
Mit den fünf Sinnen Manas ist,
Und unbeweglich steht Buddhi,
Das nennen sie den höchsten Gang.Das ist es, was man nennt Yoga,
Der Sinne starke Fesselung,
Doch ist man nicht dabei lässig:
Yoga ist Schöpfung und Vergang.“Peter Michel (Hrsg.): Upanishaden. 2006, S. 364–365
Zusammenfassung
Die frühe Yogaphilosophie der Unpanishaden sieht das Ego (Ahamkara) als eine Illusion, die uns glauben lässt, wir seien getrennte Individuen, und die uns somit von der Einheit mit dem wahren Selbst (Atman) oder der höchsten Wirklichkeit (Brahman) trennt. Im Gegensatz zu Freud oder Jung, die das Ego als funktionale psychologische Struktur betrachten, zielt Yoga darauf ab, diese Identifikation zu durchschauen und zu überwinden, um Befreiung zu erlangen. Das Ego ist bei Freud und Jung funktional notwendig und wird nicht grundsätzlich infrage gestellt, wohingegen es im Yoga als Ursache von Leiden gilt und aufgelöst werden muss, um Befreiung (Moksha) zu erlangen. Der Weg dazu führt über Selbsterforschung, Meditation, ethisches Verhalten und Hingabe.
Die Wagenlenker-Analogie hat Parallelen zu modernen psychologischen Konzepten, aber auch klare Unterschiede:
- Bei Freud könnte man den Wagenlenker vielleicht mit dem Ego vergleichen, das zwischen Es (Sinne/Pferde) und Über-Ich (moralische Kontrolle) vermittelt. Doch der Atman hat bei Freud kein direktes Äquivalent, da Freud keinen transzendenten Kern des Selbst annahm.
- Jung kommt der Upanishad-Sicht näher, da er das „Selbst“ als Zentrum der Psyche sieht, das über das Ego hinausgeht. Der Atman könnte mit Jungs Selbst verglichen werden, während das Ahamkara dem Ego entspricht.
Übertragung in unser Leben
Es erscheint stimmig, dass, wenn wir unseren Wert an Äußerlichkeiten, wie unserem Aussehen, festmachen, wir durch den Vergleich mit anderen, aber auch schlicht durch unsere eigene Vergänglichkeit, nur unglücklich werden können. Auch machen wir unsere Zufriedenheit abhängig von äußeren Umständen, die wir nicht immer beeinflussen können, wenn wir uns mit unserem Beruf, unserem Status oder dergleichen in hohem Maße identifizieren.
Ich selbst kann sehr gut nachvollziehen, dass man sich durch Identifikation mit bestimmten Dingen oder Titeln zugleich auch zugehörig fühlen möchte. Daher ertappe ich mich selbst ständig dabei, mich mit Dingen, Titeln oder Interessen zu identifizieren. Auch ist das Konzept, dass wir nicht unser Körper sind, erst einmal ungewöhnlich, denn der eigene Körper ist unser ständiges Zuhause und Begleiter. Die Themen Selbstoptimierung des Körpers und Geistes beherrschen viele Bereiche in unserer heutigen Gesellschaft und sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Jeder möchte das beste aus sich machen. Und zu erkennen, dass mit dem Alter auch unliebsame Veränderungen einhergehen, fällt mir nicht leicht.
Zugleich ist der Gedanke, dass wir mehr als nur die Summe der Dinge sind, mit denen wir uns identifizieren, sehr tröstlich.
„Jeder Mensch ist eine Insel“
Hugh Grant in seiner Rolle als Will in About a Boy (2002)
Wie traurig wäre es, wenn wir in der Tat allesamt von einander getrennte Individuen wären. Dieser Ausspruch ist ein Ausdruck von Isolation und Selbstbezogenheit und steht für die Illusion der völligen Unabhängigkeit, die in unserer modernen Gesellschaft oft attraktiv erscheint, aber letztlich zu Einsamkeit führt.
Stattdessen erkennt bereits die Figur Will im Film, dass diese Sichtweise nicht haltbar ist – echte Erfüllung kommt durch Beziehungen, Verantwortung und die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Die angepasste Metapher der Inselkette am Ende des Films ist ein Kompromiss: Sie erkennt an, dass jeder Mensch seine Individualität hat (eine „Insel“), aber dass wir dennoch miteinander verbunden sind und diese Verbindungen wichtig sind.

Die modernere Yogaphilosphie geht noch einen Schritt weiter. Wir sind nicht nur miteinander verbundene Inseln im Ozean, wir sind Wellen im Ozean, kurzzeitig abgegrenzt sichtbar, aber immer Teil des Ganzen. Dementsprechend müssen wir unser Ego nicht unbedingt überwinden, wie in den alten Schriften ausgeführt, sondern erweitern. Um zu erkennen, dass die vom Ego wahrgenommene Getrenntheit nicht die endgültige Wahrheit ist. und um zu begreifen, dass wir Teil der Welt und die Welt Teil von uns ist.
Vielleicht fällt es uns mit dieser Erkenntnis auch leichter, wieder mehr im Einklang mit der Natur und unseren Mitmenschen zu leben?
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