Schlagwort: Befreiung vom Ego

  • Freiheit – eine berechtigte Sehnsucht?

    Freiheit – eine berechtigte Sehnsucht?

    Wenn ich an Freiheit denke, kommt mir das Gefühl von physischer Freiheit, von Möglichkeit, Leichtigkeit und Unbeschwertheit in den Kopf.

    In diesem Sinne ergibt sich durch das Anhäufen von Dingen, aber auch von Ideologien und Geschichten, an denen wir festhalten und mit denen wir uns selbst beschränken, zwangsläufig das Gefühl von Unfreiheit.

    Wir kennen das schon aus dem Urlaub: wie einfach war das Verreisen als junger Mensch? Ein Rucksack prall gefüllt mit dem Nötigsten und los ging es. Hat man hingegen Kinder gilt es vorausschauender zu packen. Gegebenenfalls angepasst an unterschiedliche denkbare Wetterlagen, vorsorglich für etwaige Unfälle und Krankheiten und an die jeweiligen Bedürfnisse der kleinen Familienmitglieder kommt da so einiges zusammen. Und zudem sammeln sich Souvenirs wie Steine, Muscheln, Mitbringsel an, die unbedingt auf der Rückfahrt mit zurückgebracht werden müssen. Da ist das Packen für die Rückfahrt alles andere als unbeschwert und leicht.

    Ob im Alltagsleben, im politischen Sinne, unter dem Gesichtspunkt Simple Life oder in der Yoga-Philosophie – Freiheit ist Motivation, Ziel, Wunsch. Vielleicht basiert unser heutiges Verständnis von Freiheit aber auch einfach auf einem Missverständnis.

    Was ist Freiheit

    Bereits die Auseinandersetzung mit dem Begriff zeigt, dass unterschiedliche Kontexte und unterschiedliche Kulturen ein völlig anderes Verständnis von Freiheit haben können.

    Die politische Freiheit, wie sie in vielen Verfassungen, wie unserem Grundgesetz, Niederschlag gefunden hat, sichert in Form von Freiheitsrechten die grundlegenden Rechte jedes Menschen. Diese Art der Freiheit ist nicht absolut. Sie kann durch weitere Gesetze eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutz anderer Rechtsgüter oder zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist. Wir konnten das zuletzt in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 bis 2022 erfahren. Aber die politische Freiheit schenkt uns eine Basis für Stabilität und Sicherheit.

    Neben der politischen Freiheit, denken wir im Westen bei Freiheit oft an Entscheidungsfreiheit, die Freiheit etwas zu tun oder zu lassen (positive Freiheit) oder die Freiheit von beispielsweise Krankheiten oder Einschränkungen (negative Freiheit). Dabei zeigt sich, dass wir, die wir im politischen Sinne ein freies Leben führen dürfen, oft weniger an eine kollektive Freiheit als vielmehr an unsere individuelle Freiheit denken.

    Das Wissenschaftsjahr 2024 hat sich dem Thema „Freiheit“ gewidmet. Insbesondere das „Freiheitsarchiv“ dokumentiert den heutigen Freiheitsbegriff in unserer Gesellschaft.

    Betrachtet man die indogermanische Herkunft des Wortes „Freiheit“ hat der Begriff seine heutige Bedeutung über das germanische 

    *frī-halsa = „jemand, dem sein Hals selbst gehört“,

    der also über seine Person selbst verfügen kann, erhalten. Ebenfalls aus der indogermanischen Wurzel lässt sich etymologisch herleiten, dass jemand, der frei ist, zu einer Gemeinschaft von einander Nahestehenden und Gleichberechtigten gehört. Innerhalb dieser Gemeinschaft herrscht ein friedlicher Zustand. Die Gemeinschaft ist bereit, diesen inneren Frieden gemeinsam gegen Übergriffe von Dritten verteidigen. Somit war „Freiheit“ im Sinne einer individuellen Freiheit als Rechtsstatus relativ zu einer Gemeinschaft und im Sinne einer kollektiven Freiheit an die Bereiche gebunden, in denen die Gemeinschaft normative Herrschaft ausübt.

    In der philosophischen Betrachtung westlicher Philosophien stellt sich vor allem die Frage, wie weit Freiheit gehen darf und wodurch sie aus sich selbst heraus beschränkt ist. So wurde beispielsweise durch den kategorischen Imperativ nach Kant definiert, dass der Mensch nur frei handelt, wenn er pflichtgemäß (nach seiner vernunftbasierten Beurteilung) handelt.

    Freiheit in der Alltagswahrnehmung

    Im Erwachsenendasein finden wir uns oft mit Beruf und Familie in einem Gestrick von Verantwortungen und Verpflichtungen, was uns das Gefühl von „Un-Freiheit“ vermittelt. Die meisten von uns denken daher bei „Freiheit“ vor allem an Selbstbestimmung, aber auch Abenteuer und Loslassen. Oft sind diese Gedanken mit einer Sehnsucht verbunden. Zugleich sind Beruf und Familie doch gerade die Dinge, von denen wir vielleicht in jungen Jahren geträumt haben. Die wir angestrebt haben.

    Woher kommt es also, dass sogar diejenigen von uns, die ein Leben führen dürfen, dass den vormaligen Träumen gerecht wird, manchmal ein Gefühl der Sehnsucht nach „Freiheit“ haben?

    Alles ein großes Missverständnis?

    Wenn wir bei dem Verständnis von Freiheit als Entscheidungsfreiheit für und gegen etwas bleiben, dann setzt dieses Verständnis voraus, dass jeder von uns ein „Träger“ der Eigenschaft des „Freiseins“ sein kann. Diese Idee setzt also voraus, dass es ein Selbst gibt, das frei sein soll oder darf. Im Yoga wird ein solches Selbst als „Atman“ bezeichnet.

    Im Zen-Buddhismus indes wird ein solches Selbst als solches negiert. Der Buddha soll zu der Erkenntnis gekommen sein, dass es kein Atman gibt („An-Atman“) und somit auch keine eigenständige Substanz wie das Ich, die frei sein kann oder nicht.

    Der Freie Wille

    Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, folgt daraus, dass auch der Freie Wille nicht existiert. Echte Selbstbestimmung setzt jedoch einen freien Willen voraus.

    Aus vielen Wissenschafts-Bereichen, wie beispielsweise der Neurowissenschaft und Humanbiologie, bringen jüngere Beobachtungen und Forschungsergebnisse das Konzept des freien Willens ins Wanken. Das, was wir als Ich wahrnehmen, zeigt sich als unglaublich leicht beeinflussbar und impulsiv, wobei die Einflüsse nicht nur von außen, sondern auch aus unserem Inneren erfolgen können (Stichwort Mikrobiom).

    Insofern erscheint das Konzept des Zen-Buddhismus, wonach nichts aus sich heraus unabhängig, substantiell oder von Dauer ist, sondern alles als Wechselbeziehung erscheint, stimmig.

    Wenn wir Entscheidungen treffen, stehen sich oft in Wechselbeziehung zwei oder mehr Impulse gegenüber, beispielsweise bei der Frage: „Soll ich heute Yoga praktizieren oder lieber auf der Couch entspannen“. Diese Impulse sind jedoch nicht frei gewählt, sondern präsentieren sich von außen und/oder innen und eine vermeintlich durch den freien Willen getroffene Entscheidung ist eher eine Kontrolle der auf einen einstürmenden Impulse.

    Was wir für unseren Alltag als Freiheit gewinnen können

    Wenn wir uns „un-frei“ in unserem Alltag fühlen, kann man dies auf eine Vielzahl möglicherweise auch stärkerer Impulse zurückführen, die von außen (und gegebenenfalls auch von innen) auf uns einwirken. Daher fühlen wir uns auch manchmal so „getrieben“.

    Im Kontext des Zen-Buddhismus ist jeder von uns nicht ein (isoliertes) Selbst, sondern Teil eines Ganzen und folglich ist alles, was in jedem Moment ist – uns eingeschlossen – ein Ergebnis von Wechselbeziehungen und genauso so wie es sein soll. Daraus resultiert die Freiheit von dem Wunsch, dass es doch anders sein sollte, und die Akzeptanz dessen, was ist, kann leichter fallen.

    Nichtsdestotrotz ist es aus meiner Sicht wichtig, Missstände im eigenen Leben als solche zu identifizieren und diese im Rahmen des Möglichen zu ändern. Hierzu ist es notwendig, sich mit sich Selbst (nicht nur als individuelles Ich, sondern auch zur Beurteilung innerer Impulse) zu beschäftigen.

    In der Yoga-Philospohie wurde Freiheit oftmals als Befreiung von etwas gesehen. Moksha, die Befreiung aus dem Lebenskreislauf Samsara, und die Erkenntnis des wahren Selbst (Atman) durch Abstreifen des Schleiers des Vergessens. Oder als das Erinnern daran, dass wir alle eins sind mit dem EINEN Bewusstsein. Die Yogapraxis, sowohl in einer körperlichen Praxis als auch in Beschäftigung mit philosophischen Fragen und in Meditation sollte dabei helfen, Zugang zu seinem Innersten zu finden.

    Yoga und Bewusstheit

    Im alltäglichen Leben kann uns Yoga unterstützen, zu erfahren, wer wir wirklich sind. Nicht zur Selbstoptimierung, sondern für Selbsterkenntnis. In gleicher Weise helfen auch einfache kleine Momente des Innehaltens und ein achtsamer Umgang mit unseren eigenen Ressourcen (Zeit, Energie, Geld).

    So kann es hilfreich sein, sich darauf besinnen, in wie weit die Verantwortungen und Einschränkungen, die ich als negativ erlebe, mit meinen Entscheidungen für etwas zusammenhängen. Auf diese Weise ist es möglich, bei zukünftigen Entscheidungen diese Erfahrung als weiteren Impuls mit einfließen lassen. Mein „JA“ zu einer Sache ist ursächlich für spätere Einschränkungen, mit denen ich rechnen musste.

    Auch umfassen unsere Entscheidungen oft ein Anhäufen von materiellen Dingen in unserem Leben, die uns zusätzlich das Gefühl von Un-Freiheit vermittelt. Besitz belastet. Daher kann das Loslassen von materiellen Besitztümern und den damit verbundenen Verantwortungen auch als sehr befreiend erlebt werden.

    Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option – was uns widerfährt, Positives wie Negatives, können wir nur sehr beschränkt beeinflussen. Wie wir darauf reagieren indes schon. Darin wurzelt nach den Lehren des Buddha die wahre Freiheit des Menschen. Indem wir nicht ungefiltert und unmittelbar reagieren, sondern Raum lassen, unsere Reaktion und Emotion auf negative Erlebnisse zu beobachten, können wir aus typischen Mustern ausbrechen und darin eine neue ungeahnte Freiheit entdecken.

    Es mag dahinstehen, ob wir über einen freien Willen verfügen oder nicht. Entscheidend ist, ob wir uns frei fühlen. Und für dieses Gefühl können wir einiges tun. Indem wir unsere Wahrnehmung des alltäglichen Lebens verändern und unsere Sichtweise darauf. Und indem wir selbsterschaffene Fesseln als solche erkennen und abstreifen.

  • Unser Ego ist nicht unser Ich

    Unser Ego ist nicht unser Ich

    Der Begriff „Ego“ hat in unserem alltäglichen Sprachgebrauch eine negative Konnotation und wird oft mit Selbstbezogenheit, Eitelkeit oder einem überhöhten Selbstbild gleichgesetzt. Es beschreibt, wie jemand auf andere wirkt – egoistisch, arrogant, selbstverliebt. Im Gegensatz dazu stehen die komplexen psychologischen oder spirituellen Konzepte, die in Fachdisziplinen wie Psychologie, Psychoanalyse oder Yogaphilosophie damit verbunden sind. Was das Ego mit dem Ich zu tun hat und inwieweit das Ego dem Ich hilft oder ihm im Weg steht, möchte ich näher unter die Lupe nehmen.

    Ego (lat.) = Ich (Erste Person, singular)

    Es könnte so einfach sein… Ego heißt Ich, also muss es doch das gleiche sein. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Yogaphilosophie sehen das jedoch anders…

    In der klassischen Psychoanalyse und Psychologie sind insbesondere die Definitionen von Freud und Jung berühmt geworden, wobei auch die moderne Psychoanalyse und Psychologie auf diesen Modellen aufbauen. Durch den Einsatz modernster Untersuchungsmethodiken wird inzwischen auch wissenschaftlich überprüft, wie das Ego (oder das Selbst) mit neuronalen Strukturen wie dem präfrontalen Cortex (Selbstregulation, Entscheidungsfindung) oder dem Default Mode Network (Selbstbezug, Tagträumen) zusammenhängt.

    Interessant ist, dass die teilweise Jahrtausend(e) alten Schriften der Yogaphilosophie mit ihren Definitionen durchaus Ähnlichkeiten mit modernen Modellen und Definitionen des Egos aufweisen. Der Umgang mit dem Ego ist jedoch völlig unterschiedlich.

    Das Ego in der modernen Psychologie und Psychoanalyse

    Das Ego in der Strukturtheorie der Psyche

    Siegfried Freud beschreibt das Ego als eine der drei Instanzen der Psyche in seinem Modell aus Es, Ich (=Ego) und Über-Ich. Das Ego entwickelt sich aus dem Es und ist die Instanz, die mit der Realität interagiert. Somit bildet das Ego die Schnittstelle und den Vermittler zwischen den triebhaften Wünschen des Es (das Unbewusste, das nach sofortiger Befriedigung strebt) und den moralischen Anforderungen des Über-Ichs (das Gewissen, das gesellschaftliche Normen und Werte repräsentiert). Es arbeitet nach dem Realitätsprinzip, d.h., es versucht, die Impulse des Es in einer sozial akzeptablen Weise zu befriedigen.

    Freud verglich das Ego mit einem Reiter, der das wilde Pferd (das Es) zügeln und durch die äußere Realität lenken muss, während das Über-Ich als strenger Richter auftritt.

    Das Ego im analytischen Psychologie-Modell

    Carl Gustav Jung, der sich von Freud abspaltete, hat eine andere Sichtweise auf das Ego. Bei Jung ist das Ego weniger ein Vermittler zwischen Instanzen, sondern mehr ein zentraler Teil des Bewusstseins:

    Das Ego ist die Summe dessen, womit sich eine Person identifiziert (Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen). Es ist der bewusste Teil der Persönlichkeit, der die Kontinuität und Identität eines Individuums ausmacht. Das Ego dient als Torwächter zum Unbewussten und ermöglicht die Interaktion mit der Außenwelt. Es ist jedoch nicht die Gesamtheit der Psyche, sondern nur ein kleiner Teil. Jung betonte, dass das Ego in Beziehung zum größeren „Selbst“ (dem Zentrum der gesamten Psyche, einschließlich des Unbewussten) steht. Das Ego kann somit ein Hindernis für die Individuation (den Prozess der Ganzwerdung) sein, wenn es zu starr oder dominant wird.

    Jung verglich das Ego manchmal mit der Spitze eines Eisbergs – es ist sichtbar, aber nur ein kleiner Teil der gesamten Psyche, die größtenteils im Unbewussten (wie dem kollektiven Unbewussten) verborgen liegt.

    Gemeinsamkeiten

    Beide sehen das Ego als bewusstseinsnah und als Schnittstelle zur Realität, aber Jung legt mehr Wert auf die spirituelle und transzendente Dimension der Psyche, während Freud sich auf die triebhafte und soziale Dynamik fokussiert.

    Das Ego in der Yogaphilosophie

    Auch in der Yogaphilosophie wird das Ego in Beziehung zu dem Selbst gesehen, jedoch steht es hierbei nicht für eine eigenständige psychologische Instanz, sondern wird als Illusion oder Fehlidentifikation des Selbst mit dem Körper, dem Geist und der materiellen Welt definiert. Der zentrale Begriff für das Ego ist Ahamkara (wörtlich: „Ich-Macher“), während das wahre Selbst oft mit dem Atman gleichgesetzt wird.

    Die Wagenlenker-Analogie (ca. 500 v. Chr.)

    Die sogenannte Wagenlenker-Analogie ist eine berühmte Metapher aus den Upanishaden, insbesondere aus der Katha-Upanishad, die das Konzept des „Selbst“ sowie seine Beziehung zu Körper, Geist und Sinnen erklärt. 

    Ein zentraler Vers der Katha-Upanishad (1.3.3-4) lautet sinngemäß:

    „Erkenne den Atman als den Herrn des Wagens, den Körper als den Wagen, den Intellekt als den Wagenlenker, den Geist als die Zügel. Die Sinne sind die Pferde, die Objekte der Sinne sind die Wege. Wer ohne Unterscheidungskraft ist, dessen Sinne sind ungebändigt, wie ungebärdige Pferde eines Wagenlenkers. Doch wer Unterscheidungskraft hat und einen kontrollierten Geist, dessen Sinne sind gezähmt, und er erreicht das höchste Ziel.“

    Das „Ich“ wird in der Katha-Upanishad auf verschiedenen Ebenen verstanden. Es gibt hier eine Unterscheidung zwischen dem wahren „Ich“ (Atman repräsentiert durch den Herrn bzw. Passagier des Wagens) und dem falschen „Ich“, das mit dem Ego (Ahamkara) assoziiert wird.

    Der Atman ist der eigentliche „Herr“ des Wagens, aber er ist passiv – er greift nicht direkt ein, sondern beobachtet. Er ist das Bewusstsein, das alles durchdringt und die Reise überdauert. Sein Ziel ist es, zur Erkenntnis seiner eigenen Natur zu gelangen, also zu erkennen, dass er eins ist mit Brahman, der höchsten Wirklichkeit.

    Obwohl die Wagenlenker-Analogie das Ahamkara (das Ego im Sinne der Yogaphilosophie) nicht explizit erwähnt, wird es oft implizit verstanden als die Fehlidentifikation des Atman mit den Aktivitäten des Wagens. Das Ahamkara ist die Illusion, die entsteht, wenn der Intellekt (Buddhi) oder der Geist (Manas) sich mit den Sinnen und dem Körper identifiziert und glaubt: „Ich bin der Handelnde“, „Das gehört mir“. In der Analogie könnte man sagen, dass das Ahamkara entsteht, wenn der Wagenlenker (Buddhi) vergisst, dass er nur ein Diener des Passagiers (Atman) ist, und sich selbst für den Herrn hält. In der Folge irrt der Wagen ziellos umher, er wird von den Begierden der Sinne (den Pferden) oder dem durch Erfahrungen geprägten Geist (den Zügeln) gelenkt.

    Wie sollen wir mit dem Ego umgehen?

    In unserer heutigen Zeit kann man Ahamkara entsprechend darin sehen, dass wir uns oft mit Äußerlichkeiten, unseren Besitztümern, unserem Status identifizieren. Infolgedessen vergessen wir, dass wir alle Teil eines großen Ganzen (von allem, was ist, beispielsweise der Natur) sind. Entsprechend fühlen wir uns in unserer Selbstbezogenheit (und im ständigen Vergleich mit anderen, die mehr haben) isoliert und unglücklich. Wir halten krampfhaft an unseren Besitztümern, unserem Status oder unseren Äußerlichkeiten fest, was unseren leidvollen Umgang mit dem Altern und dem Verlust von Status im Alter und dem Festhalten an Dingen erklärt.

    In der Yogaphilosophie ist das Ego kein „Feind“, der zerstört werden muss, sondern ein Hindernis, das überwunden oder transzendiert werden soll. Die Yoga-Praxis soll uns entsprechend helfen, unsere Identifikation mit dem Ego zu lösen und stattdessen Einheit mit unserer wahren Essenz (als Teil von allem) zu erfahren, indem wir Sinne, Geist und Intellekt zum Stillstand bringen:

    „Erst wenn gelangt zum Stillstande
    Mit den fünf Sinnen Manas ist,
    Und unbeweglich steht Buddhi,
    Das nennen sie den höchsten Gang.

    Das ist es, was man nennt Yoga,
    Der Sinne starke Fesselung,
    Doch ist man nicht dabei lässig:
    Yoga ist Schöpfung und Vergang.“

    Peter Michel (Hrsg.): Upanishaden. 2006, S. 364–365


    Zusammenfassung

    Die frühe Yogaphilosophie der Unpanishaden sieht das Ego (Ahamkara) als eine Illusion, die uns glauben lässt, wir seien getrennte Individuen, und die uns somit von der Einheit mit dem wahren Selbst (Atman) oder der höchsten Wirklichkeit (Brahman) trennt. Im Gegensatz zu Freud oder Jung, die das Ego als funktionale psychologische Struktur betrachten, zielt Yoga darauf ab, diese Identifikation zu durchschauen und zu überwinden, um Befreiung zu erlangen. Das Ego ist bei Freud und Jung funktional notwendig und wird nicht grundsätzlich infrage gestellt, wohingegen es im Yoga als Ursache von Leiden gilt und aufgelöst werden muss, um Befreiung (Moksha) zu erlangen. Der Weg dazu führt über Selbsterforschung, Meditation, ethisches Verhalten und Hingabe.

    Die Wagenlenker-Analogie hat Parallelen zu modernen psychologischen Konzepten, aber auch klare Unterschiede:

    • Bei Freud könnte man den Wagenlenker vielleicht mit dem Ego vergleichen, das zwischen Es (Sinne/Pferde) und Über-Ich (moralische Kontrolle) vermittelt. Doch der Atman hat bei Freud kein direktes Äquivalent, da Freud keinen transzendenten Kern des Selbst annahm.
    • Jung kommt der Upanishad-Sicht näher, da er das „Selbst“ als Zentrum der Psyche sieht, das über das Ego hinausgeht. Der Atman könnte mit Jungs Selbst verglichen werden, während das Ahamkara dem Ego entspricht.

    Übertragung in unser Leben

    Es erscheint stimmig, dass, wenn wir unseren Wert an Äußerlichkeiten, wie unserem Aussehen, festmachen, wir durch den Vergleich mit anderen, aber auch schlicht durch unsere eigene Vergänglichkeit, nur unglücklich werden können. Auch machen wir unsere Zufriedenheit abhängig von äußeren Umständen, die wir nicht immer beeinflussen können, wenn wir uns mit unserem Beruf, unserem Status oder dergleichen in hohem Maße identifizieren.

    Ich selbst kann sehr gut nachvollziehen, dass man sich durch Identifikation mit bestimmten Dingen oder Titeln zugleich auch zugehörig fühlen möchte. Daher ertappe ich mich selbst ständig dabei, mich mit Dingen, Titeln oder Interessen zu identifizieren. Auch ist das Konzept, dass wir nicht unser Körper sind, erst einmal ungewöhnlich, denn der eigene Körper ist unser ständiges Zuhause und Begleiter. Die Themen Selbstoptimierung des Körpers und Geistes beherrschen viele Bereiche in unserer heutigen Gesellschaft und sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Jeder möchte das beste aus sich machen. Und zu erkennen, dass mit dem Alter auch unliebsame Veränderungen einhergehen, fällt mir nicht leicht.

    Zugleich ist der Gedanke, dass wir mehr als nur die Summe der Dinge sind, mit denen wir uns identifizieren, sehr tröstlich.

    „Jeder Mensch ist eine Insel“

    Hugh Grant in seiner Rolle als Will in About a Boy (2002)

    Wie traurig wäre es, wenn wir in der Tat allesamt von einander getrennte Individuen wären. Dieser Ausspruch ist ein Ausdruck von Isolation und Selbstbezogenheit und steht für die Illusion der völligen Unabhängigkeit, die in unserer modernen Gesellschaft oft attraktiv erscheint, aber letztlich zu Einsamkeit führt.

    Stattdessen erkennt bereits die Figur Will im Film, dass diese Sichtweise nicht haltbar ist – echte Erfüllung kommt durch Beziehungen, Verantwortung und die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen. Die angepasste Metapher der Inselkette am Ende des Films ist ein Kompromiss: Sie erkennt an, dass jeder Mensch seine Individualität hat (eine „Insel“), aber dass wir dennoch miteinander verbunden sind und diese Verbindungen wichtig sind.

    Die modernere Yogaphilosphie geht noch einen Schritt weiter. Wir sind nicht nur miteinander verbundene Inseln im Ozean, wir sind Wellen im Ozean, kurzzeitig abgegrenzt sichtbar, aber immer Teil des Ganzen. Dementsprechend müssen wir unser Ego nicht unbedingt überwinden, wie in den alten Schriften ausgeführt, sondern erweitern. Um zu erkennen, dass die vom Ego wahrgenommene Getrenntheit nicht die endgültige Wahrheit ist. und um zu begreifen, dass wir Teil der Welt und die Welt Teil von uns ist.

    Vielleicht fällt es uns mit dieser Erkenntnis auch leichter, wieder mehr im Einklang mit der Natur und unseren Mitmenschen zu leben?