Loslassen klingt nach Aktion, also etwas, das wir aktiv tun.
Im Kontext von Trauer oder negativen Gefühlen wollen wir oft loslassen oder davon ablassen, an das die Gefühle auslösende Ereignis zu denken, wollen nach vorne sehen. Zugleich wollen wir aber auch nicht verdrängen, denn – das hat sich bereits herumgesprochen – verdrängte Gefühle neigen dazu, uns zu belasten und auf lange Sicht vielleicht sogar krank zu machen.
Wie also können wir loslassen und wie kann Yoga hier unterstützen?

Loslassen als körperliches Erleben
Loslassen ist im Zusammenhang mit unserem Körper weniger eine aktive Handlung als vielmehr das Aufhören mit etwas, nämlich mit dem Festhalten.
Wenn wir im tatsächlichen Sinne mit unseren Händen etwas festhalten wollen, müssen wir unsere Muskeln anspannen. Um loszulassen zu können, müssen wir die Muskeln wieder entspannen, sich lösen lassen. Wir können im Körper spüren, wie die Spannung in den Händen sich abbaut. Unsere entspannten Hände finden wie von selbst in eine halbgeöffnete schalenähnliche Form.

Loslassen kann also im physiologischen Sinne eher als Entspannung nach einer Anspannung wahrgenommen werden.
Loslassen im Yoga
Wie im Leben gibt es auch in der Yoga-Praxis unterschiedliche Formen des Loslassens.
Loslassen als Entspannung
Wenn wir in der Asana-Praxis aus einer anstrengenden Haltung kommen, empfiehlt es sich in einer Ausgleichshaltung nachzuspüren, dem Körper Zeit für die physiologische Entspannung zu geben. Aus den Entspannungssignalen des Körpers erhält auch unser vegetatives Nervensystem die Rückmeldung, die Anspannungssituation ist beendet. Man beobachtet das vielleicht an sich selbst, wenn sich ein Stöhnen oder Ächzen löst oder man in der Ausgleichshaltung gähnt – unser Geist darf ebenfalls entspannen.
Wenn wir – ganz präsent in unserer Praxis auf der Matte – diesen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung wahrnehmen und erfahren, können wir auch in Alltagssituationen Anspannungen leichter auflösen, indem wir unseren Körper mit den gleichen Entspannungsmechanismen lösen, einem tiefen Ausatem, einem lösenden Seufzer (eine Übung aus dem Breath Work: Physiological Sigh).
Loslassen als Geistesübung
Aber das Loslassen in der Yogapraxis ist nicht nur die Entspannung nach der Anspannung.
Wir können stattdessen auch in Yogahaltungen „loslassen“, sei es um die Muskulatur in der Dehnung zu „öffnen“ oder aber um in der Muskelaktivität in die vielleicht unangenehme Körperempfindung hinein zu entspannen – ohne die Übung zu beenden.

Ein typisches Beispiel für das Loslassen in die Dehnung während die Muskeln aktiv bleiben, involviert die Dehnung der (aktivierten) hinteren Oberschenkelmuskulatur („Hamstrings“) wie beispielsweise in der Haltung „Supta Eka Padangusthasana„, einer Yoga-Pose, die auch als „Zurückgelehnte Hand zum großen Zeh“ bezeichnet wird. Sie wird liegend ausgeführt, wobei ein Bein gestreckt nach oben gezogen wird und die Zehen (oder der Zeh) mit den Fingern umgriffen werden. Die Strukturen, die dabei gedehnt werden, sind neben den Muskeln selbst auch die umgebenden Faszien, die erst nach 30 Sekunden reagieren und nachgeben. Eine über etwa 2 bis 3 Minuten gehaltene statische Dehnung gilt als besonders effektiv (Quelle: https://www.liebscher-bracht.com/therapie/grundlagen/uebungen/).
Die Muskulatur bleibt auch in der Dehnung aktiviert. Um in die Haltung dennoch hinein zu entspannen, wird in der Yoga-Praxis der Atem genutzt und dadurch der Fokus der Wahrnehmung verschoben.
Der Atem als Fokus
Der Geist neigt dazu, bei unangenehmen Gefühlen und Körperempfindungen in den Widerstand zu gehen. Unsere Gedanken kreisen darum, den Zustand zu beenden, aus der Haltung zu gehen: „es zieht“, „wie lange geht das noch so“, „ich will nicht mehr“. Durch die Konzentration auf den Atem und möglicherweise eine bewusste Atemlenkung, wird der Blickwinkel verändert. Man bleibt präsent in der Haltung ohne auszuweichen, aber geht aus dem Widerstand heraus in die Haltung des Beobachters. So kann man beispielsweise spüren wie der bewusst gelenkte Atem die Körperempfindung verändert.

Diese Erfahrung wiederum lässt sich auch in den Alltag übertragen. Indem wir unseren Blickwinkel verändern, können wir auch bei unangenehmen Gefühlen kurze Inseln des Loslassens schaffen.
Der innere Beobachter
Beispielsweise kann es hilfreich sein, sich und seine körperliche Empfindung als Reaktion auf ein Gefühl zu beobachten: Wie fühlt sich meine Trauer an, wo spüre ich sie? So kann man vielleicht beobachten, dass sich die Brust enger anfühlt, der Atem flacher ist.
In dem Moment, da ich in die Rolle des Beobachters schlüpfe, den Blickwinkel verändere, unterbreche ich kurzzeitig die Auseinandersetzung meines Geistes mit dem Gefühl bzw. dem das Gefühl auslösenden Trigger. Der Geist wird mit etwas anderem beschäftigt, wodurch er eine kleine Erholungspause erhält und zugleich präsent bleibt. Der Wechsel des Blickwinkels kann helfen, emotionalen Reaktionen mehr Distanz zu verschaffen, Gelassenheit zu gewinnen und aus schwierigen Situationen mit mehr Klarheit herauszufinden.
Yoga als Unterstützung
Durch eine solche Präsenz wird nicht die Trauer als solches losgelassen. Stattdessen unterstützen wir uns und unseren Körper darin, mit dem daraus resultierenden Stress umzugehen. Zur Bewältigung der Trauer bedarf es Zeit und einer achtsamen Auseinandersetzung mit dem auslösenden Verlust.
Aber die Präsenz und Achtsamkeit, die wir in der Yogapraxis erlernen können, hilft uns auch im Alltag negative Gedankenkarusselle, zu denen unser Geist neigt, als solche zu erkennen und zu durchbrechen.
Daher rauf auf die Matte und raus aus dem Autopilot-Modus, damit wir uns in absoluter Präsenz wieder erleben lernen.









