Wenn Du an Yoga denkst, hast Du vielleicht folgendes Bild vor Augen: eine durchtrainierte jungen Frau (oder ein durchtrainierter junger Mann) ist mit enger/hipper Yogakleidung und friedlichem Gesichtsausdruck in einer spektakulären artistengleichen Pose vor einem naturnahem Hintergrund gezeigt. Das entspricht im Wesentlichen der marketingbasierten Darstellung des westliche Yoga in den letzten Jahrzehnten (wie nachfolgenden von ognx).
Yoga ist aber viel mehr. Die große Stärke von Yoga liegt meiner Meinung nach weder in einer besseren Beweglichkeit noch in Muskelaufbau oder sonstigen physischen Errungenschaften, die mit der Praxis einhergehen können. Es ist vielmehr so, dass Yoga uns (dabei) wieder in Kontakt mit uns selbst zu bringen vermag.
Wir können zunächst unseren Geist beruhigen und dann – vielleicht nach langer Zeit endlich einmal wieder – in unser Herz blicken. Wir finden Klarheit und können erkennen, was uns wichtig ist. Möglicherweise nicht unmittelbar, denn Yoga ist ein Prozess, ein Begleiter auf unserem Lebensweg. Aber mit zunehmender Übung gelingt es immer besser zurück zu sich zu finden und sich wieder zu erkennen.
Wann soll ich mit Yoga beginnen
Mit Yoga zu beginnen und es zu einer liebevollen Gewohnheit zu machen, ist vor allem dann sinnvoll, wenn es uns gut geht und wir emotional geerdet sind. Denn wenn uns die regelmäßige Praxis in den guten Zeiten erst einmal zur Gewohnheit geworden ist, kann uns Yoga in turbulenten Zeiten umso besser stützen.
Um mit Yoga zu beginnen, empfiehlt es sich aus meiner Erfahrung einen Lehrer bzw. eine Klasse zu finden, die einen als Anfänger begleiten kann, damit man von Anfang an, eine gesunde Ausrichtung erlernen und zugleich in seiner Reise zu sich selbst begleitet werden kann. Durch kleine Meditationen, Atemlenkungen oder einfache Beobachtungsübungen, die die Asanapraxis unterstützen.
Auch im Internet finden sich unzählige Videos, Onlinekurse und dergleichen, die einem einen ersten Einblick in unterschiedliche Yogasysteme geben können. Aber der persönliche Kontakt und der erfahrene Blick eines Lehrer bietet einen echten Mehrwert, gerade am Anfang.
Stille kann auch re-traumatisieren
Schwieriger wird es, wenn man in schwierigen Zeiten, insbesondere nach einem traumatischen Erlebnis, sich durch Yoga mental helfen, psychisch stabilisieren und somit wieder mehr bei sich und in seinem Körper ankommen möchte.
Denn bei Traumata kann konventioneller Yogaunterricht möglicherweise mehr Schaden anrichten als helfen. So kann es besonders schwer sein, die Stille zu ertragen, die uns die Innenschau ermöglichen soll. Auch kann nach einem Trauma der Blick nach Innen die traumatischen Ereignisse wieder zurück bringen, was je nach Art des Traumas und ohne professionelle Begleitung nicht förderlich für die traumatisierte Person ist.
Daher ist wichtig, sehr behutsam vorzugehen und auch hier den Yoga an die persönlichen Bedürfnisse anzupassen. Die behutsame Auseinandersetzung mit sich eröffnet einen – allerdings nur mit speziell geschulten Lehrern – Raum, um auch mit schweren psychischen Traumata umzugehen. Dies hat unter anderem das Projekt Citizen2be eindruckvoll bewiesen.
Yoga kann Körper und Geist erreichen
Mit unterschiedlichen Yogasystemen kann es uns auch in schwere Zeiten situationsangepasst gelingen – auch über den Körper und Körperübungen – den Geist zu beruhigen, Stressempfinden zu reduzieren und wieder Zutrauen zum eigenen Körper/uns aufzubauen.
Das Leben annehmen
In meinem eigenen Leben musste ich, wie wir alle, lernen (ein Prozess, der noch längst nicht abgeschlossen ist), all die Veränderungen anzunehmen, die das Leben mit sich bringt, auch und gerade diejenigen, die schmerzhaft sind. Denn Leben ist Veränderung. Damit bleibt einem nur, mit dem Leben zu hadern und zu leiden, oder aber anzunehmen, was das Leben bringt und die eigenen Erwartungen loszulassen.
Dass das alles andere als einfach ist, versteht sich von selbst. Zumal wir (in der westlichen Welt) heute mit der Vorstellung aufwachsen, wir hätten alles unter Kontrolle. Erfreulicherweise ermöglicht uns durch die moderne Medizin, Krankheiten besser zu „kontrollieren“, die Technik erleichtert uns, die „Kontrolle“ über unser Alltagsleben zu behalten und wir fühlen uns als „unseres Glückes Schmied“. Aber natürlich ist das in gewisser Weise auch eine Illusion, denn unser Einfluss ist und bleibt begrenzt.
Das lehrt uns auch der Yoga. In der Körperarbeit (Asana) müssen wir unseren Körper so annehmen, wie er jetzt ist, und basierend darauf unsere Praxis gestalten. Jeder unterliegt dabei Limitierungen und sei es nur aufgrund des individuellen Körperbaus, den jeder von uns mitbringt. Hinzu kommt, dass wir nicht jeden Tag gleich sind, mental wie auch körperlich. Wenn wir praktizieren, liegt es an uns, unsere Limits zu erkennen und achtsam/aufmerksam zu üben, um uns nicht zu über- oder unterfordern.
Jeder übt für sich
Hierin liegt oft auch die Herausforderung, wenn wir nicht für uns, sondern für andere, üben. Dies gilt beispielsweise, wenn wir für Instagram-Likes uns in besonders schwierige Haltungen zwängen, oder wenn wir in einer Klasse mehr auf die anderen achten als auf uns selbst, um uns mit den anderen vergleichen.
Gerade aber, wenn ich in meiner Praxis bei mir bleiben kann, komme ich in den Genuss, mich zu spüren und mich beobachten zu können.
Wir können dann in schwierigen Asanas lernen, unseren Geist zu beobachten: wie er uns glauben lassen möchte, wir könnten das nicht, es sei zu schwer, zu anstrengend, die Muskeln brennen… und dann können wir uns klar machen, dass wir im Kern unseres Wesens nicht der Denker unserer Gedanken sind.
Ich bin nicht der Denker meiner Gedanken
Unser Geist, der uns ununterbrochen mit Geschichten über uns und unsere Umwelt füttert, entspringt nicht unserem Innersten, sondern er ist eine Sammlung von Prägungen, Erzählungen, Aufgeschnapptem, Wissen, Halbwissen und Nichtwissen. Und die meiste Zeit sind es negative Geschichten über uns. Unser Geist, unsere Gedanken, das sind jedoch nicht wir selbst, nicht der Kern unseres Selbst. Daher ist es auch nicht notwendig, dieser Stimme in uns zuviel Gewicht beizumessen. Spannender kann es sein, die Gedanken einfach mal zu beobachten und – wie ein Aussenstehender es tun würde – sich auch mal zu fragen, wie kommt mein Geist zu diesen Gedanken.
Wer sich näher mit diesem zentralen Gedanken auseinandersetzen möchte, sollte sich mit Eckart Tolle („Ich bin nicht meine Gedanken“) und seinen Büchern vertraut machen.
Fazit
Jeder kann – auch mit Hilfe von Yoga – wieder den Weg zu sich selbst finden. Die Stille als Gegenspieler zu unseren dekonstruktiven Gedanken ist wohltuend und unterstützt dabei, in Kontakt mit dem Selbst zu kommen, das wir im Alltag fast vergessen haben.
Es gibt also noch so viel zu entdecken…
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